Was bedeutet der Ukraine-Krieg für Europa? Und worauf kommt es jetzt an? – Die Vordenker Pascal Lamy und Geneviève Pons im Interview.
Letztes Update am Sonntag, 11.09.2022, 06:40
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Warum war Europa so überrascht von Russlands Invasion in der Ukraine?
Pascal Lamy: Das hängt mit unserer Ideologie zusammen, nach der die Europäische Union als Friedensstifter konstruiert ist. Wir waren nicht nur nicht vorbereitet, sondern haben auch wichtige Bestandteile unserer Wirtschaft an Russland gebunden.
Die Deutschen hatten nicht akzeptiert, Russland als größte Bedrohung der europäischen Sicherheit einzustufen. Die Position gegenüber Russlands Annexion der Krim kann im Rückblick als zu weich betrachtet werden. Die wichtigste Erklärung dafür ist, dass wir (Kremlchef Wladimir) Putin nicht provozieren wollten. Das macht ihn stärker, wenn doch etwas passiert.
Zudem hat die EU militärische Stärke nicht als Bestandteil einer sicheren Union verstanden.
Geneviève Pons: Wir haben nicht genau hingeschaut.
In Frankreich sagte unsere führende Russland-Expertin am Tag vor der Invasion: Wer glaubt, dass es eine Invasion geben wird, versteht die russische Seele nicht. Wegen dieser Romantisierung konnten wir nicht richtig sehen.
Außerdem haben wir nicht die Aufklärungskapazität der US-Amerikaner. Es gibt noch keinen europäischen Nachrichtendienst.
Hätte Europa ohne amerikanische Führung auf dieselbe Weise reagieren können?
Lamy: Die Vorstellung, dass die Amerikaner immer da sein werden, ist unter der Präsidentschaft von Donald Trump in Frage gestellt worden. Aber diesmal war die EU selbst nicht in der Lage, die notwendige militärische Unterstützung anzubieten. Die europäische Sicherheit hängt militärisch – inklusive Aufklärung und Cyberfähigkeiten – zu 70 Prozent an den US-Amerikanern.
Aber es gibt auch andere Dimensionen. Die EU trägt die Hauptlast der Sanktionen. Soweit diese auch den Westen treffen, sind wir an der Frontlinie.
Die dritte Dimension ist die psychologische. Steht die Öffentlichkeit hinter den Sanktionen, während sie die Folgen spürt? Auch hier sind wir an der Frontlinie. Putin spielt auf Zeit. Seine Wette lautet, dass die öffentliche Meinung in Europa nach einiger Zeit gespalten sein wird.
Andererseits hat die Invasion in Europa neue Dynamiken ausgelöst.
Lamy: Wenn man sich das vergangene Jahrzehnt anschaut, hat die EU unter dem Druck von Krisen große Integrationsschritte gemacht. Das gilt für die Finanzkrise ebenso wie für die Pandemie, in der wir das deutsche Tabu überwunden haben, dass es keine gemeinsamen Schulden geben darf. Mittel- bis langfristig wird externer Druck dafür sorgen, dass die EU-Integration vorangetrieben wird, um die eigene Widerstandsfähigkeit zu stärken. Externer Druck erzeugt mehr politische Energie als interner.
Pons: Meine Hoffnung ist, dass diese Dynamik nicht allein die europäische Verteidigung stärkt, sondern auch die Energiewende und die Ausrichtung der Landwirtschafts- und Lebensmittelpolitik auf Nachhaltigkeit beschleunigt. Es ist ein Drama, dass diese Krise zumindest kurzfristig wieder Kohlekraftwerke ins Spiel gebracht hat. Dies sollte wirklich nur für sehr kurze Zeit der Fall sein.
Dasselbe gilt für die Landwirtschaftspolitik. Ausnahmen von Nachhaltigkeits- und Umweltzielen dürfen auch hier – wenn überhaupt – nur sehr kurzfristiger Natur sein. Es gibt keine Lebensmittelsicherheit ohne Nachhaltigkeit, weil wir sonst unsere Fähigkeit zerstören, unsere Bevölkerung zu ernähren. Mehr als 80 Prozent der Böden in der EU sind mit Pestizidrückständen kontaminiert. Es darf keine Abweichungen mehr vom Green Deal geben.
Und die Verteidigung?
Pons: Bei der Verteidigung wird das Thema sein, dass wir nicht immer die Interessen der USA teilen. Wir weichen beispielsweise in der Bewertung voneinander ab, was das Risiko durch China betrifft. Wir müssen auch bezweifeln, dass die USA ein Interesse haben zu intervenieren, wenn am Westbalkan etwas passiert. Es gibt also gute Gründe für eine eigene strategische Analyse, und die ist der erste Pfeiler einer europäischen Verteidigung.
Zweitens brauchen wir eine europäische Rüstungsindustrie. Und drittens sind wir sehr schwach im Bereich der Aufklärung und bei der Reaktion auf moderne Angriffe, besonders im Cyber-Bereich.
Was ist der größte Fehler, den Europa in der Antwort auf die Ukraine-Krise begehen kann?
Pons: Eine Rückkehr zur Kohle wäre verrückt. Es war schwierig und schmerzhaft, aus der Kohle auszusteigen – wegen der sozialen Dimension in den betroffenen Regionen. Jetzt wieder einzusteigen, wäre ein besorgniserregender Schritt zurück. Kohleverbrennung ist dreimal so schädlich für das Klima wie Gas.
Lamy: Kurzfristig ist das größte Risiko, dass wir die Unterstützung der öffentlichen Meinung verlieren. Putin hat dieses Problem nicht, weil er seine Bevölkerung kontrolliert. Aber wir sind Demokratien. Wir müssen in der Lage sein, im Angesicht einer ökonomischen Aggression Russlands zu erklären und zu vermitteln, was wir tun.
Pons: Wir haben noch nicht über die globale Dimension gesprochen. Wir laufen Gefahr, die so genannte Schlacht der Narrative zu verlieren, besonders in Afrika. Laut Aussage eines hochrangigen EU-Vertreters hier in Alpbach, haben die Russen zum Beispiel gerade um die 40 Journalisten, die von Russia Today bezahlt werden, nach Kenia geschickt.
Nord- und Ostafrika sind von diesem Konflikt betroffen, und es ist leicht, ihnen zu erzählen, dass die Europäer die Schuld tragen.
Lamy: Die Chinesen befinden sich mit den Russen in einer narrativen Allianz, weil es ihnen passt, die ungezogenen Amerikaner verantwortlich zu machen. Ich glaube zwar nicht, dass sie (bei der Unterstützung Russlands, Anm.) viel weiter gehen werden. Aber auch diese narrative Allianz ist gefährlich. Das haben wir in der UNO gesehen. Länder, die zusammen die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, stehen nicht auf unserer Seite, obwohl es sich um einen sehr klaren Verstoß gegen das Völkerrecht handelt.
Ist es jetzt an der Zeit, die Beziehungen mit China zu überdenken?
Lamy: Das passiert bereits. In Deutschland diskutieren die Industrie und die Regierung, wie man die Abhängigkeit von China verringert. China wird aber ein wichtiger Markt für Europa bleiben. Und ein entglobalisiertes China ist gefährlicher als ein globalisiertes. Wir sollten die amerikanische Strategie, China zu isolieren, nicht übernehmen.
Die Hauptursache für die Verschlechterung der globalen Lage ist die Rivalität zwischen China und den USA. Beide Seiten haben entschieden, diese Konfrontation auszubauen. Die USA versuchen, sich wirtschaftlich von China abzukoppeln, und auch in Peking meint die Mehrheit des Politbüros, dass so eine Abkoppelung gut für China sein könnte.
Das große Thema in den kommenden 20 Jahren wird Taiwan sein. Wir sind kollektiv auf eine Invasion von Taiwan jedenfalls besser vorbereitet, als wir es auf die Invasion der Ukraine waren.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen wir viel stärker kooperieren könnten. Bei Umweltbelangen zum Beispiel brauchen wir die Chinesen auf jeden Fall.
Pons: Zum Beispiel, um die Antarktis zu schützen. Den Leuten ist nicht bewusst, wie groß die Antarktis ist: 90 Prozent des Eises auf der Welt, 70 Prozent des Wassers. Wir müssen diese Zone, die extrem wichtig für das Weltklima ist, schützen. Derzeit stemmen sich zwei Länder dagegen: Russland und China. Wir hoffen, dass sie sich bis zur nächsten Weltklimakonferenz in Montreal bewegen.
Wo steht der Ukraine-Konflikt in einem Jahr?
Lamy: Wenn wir in den nächsten sechs Monaten vereint bleiben, dann werden wir nach dem Winter in einer besseren Position sein und Russland in einer schlechteren. Deshalb ist es entscheidend, dass wir den Winter überleben – politisch gesehen. Wir müssen die Schlacht um die Zeit gewinnen.