Die Vordenker Pascal Lamy und Geneviève Pons über Europas Versuche, sich zu einer geopolitischen Macht zu mausern.
Auf dem BRICS-Gipfel im August waren 40 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert. Länder haben sich unter Chinas Führung gegen den Westen aufgestellt. Wie sehr muss uns das besorgen?
Pascal Lamy: Wir wissen noch nicht, was ihre Agenda ist. Aber ich halte es für das wichtigste Merkmal von BRICS, dass es sich um eine narrative Allianz handelt. Wir leben in einer Zeit, in der gegensätzliche Narrative die internationale Sphäre dominieren: Norden gegen Süden, Westen gegen den Rest usw. Die Haltung von BRICS lautet: Der Westen ist die Vergangenheit, wir sind die Zukunft.
Geneviève Pons: Der Begriff Globaler Süden (als dessen Anwalt sich BRICS darstellt, Anm.) ist jedoch irreführend. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen den großen BRICSStaaten wie China und den am wenigsten entwickelten afrikanischen Ländern.
Wie kommt es, dass der Westen sich nun anstrengen muss, Länder auf seine Seite zu bringen? Was haben wir eigentlich bisher gemacht?
Lamy: Wir tragen schwer an der Verantwortung für die Vergangenheit, etwa den Kolonialismus. Dazu kommt das Thema Doppelmoral – vom Irak-Krieg bis zur Pandemie, in der es das Narrativ gibt, dass wir keine Impfdosen weitergegeben hätten, obwohl wir das später doch gemacht haben. Die Welt verändert sich – und damit auch die relative Position des Westens. Die Zukunf liegt im indopazifischen Raum. Und innerhalb dieses Raums verändert sich die Balance ebenfalls. Nach den Prognosen hat Indien im Jahr 2100 zwei Milliarden Einwohner und China 750 Millionen.
Pons: Das Thema Doppelmoral ist ja auch im Zusammenhang mit der Energiekrise aufgekommen. Ich glaube, dass wir diese Wahrnehmung umkehren können, indem wir uns viel ernsthafter von fossilen Brennstoffen abwenden und dem Süden helfen, dasselbe zu tun. Wir haben historisch eine große Verantwortung, was den Ausstoß von CO2 betrifft. Wir haben die Mittel, um den Umstieg auf erneuerbare Energien zu finanzieren und um dem Süden bei der Anpassung zu helfen. Es ist unsere Pflicht, dies zu tun.
BRICS ist als Gegengewicht zu den USA beschrieben worden. Verliert Europa im geopolitischen Machtspiel?
Lamy: Bisher wird Europa nicht als geopolitische Einheit gesehen, die wirtschaftliche, wissenschaftliche und militärische Schlagkraft kombiniert. Der militärische Bereich liegt bei der NATO. Wenn Europa eine Macht werden will, muss es sich international positionieren. Die meisten BRICS-Länder werden versuchen, opportunistisch zwischen Ost und West und Nord und Süd zu navigieren. Und ich glaube, die EU sollte dasselbe machen. Sie sollte sich selbst unverzichtbar machen für die anderen. Und natürlich ist die grüne Dimension zentral für unsere geopolitische Existenz. Wir müssen sicherstellen, dass eine grünere EU auf ausreichend Unterstützung trifft.
Pons: Wir sind mit den USA verbündet, mit denen wir gemeinsame Werte teilen, aber wir sind nicht an den USA „ausgerichtet“. Mit China gibt es Rivalität, aber auch Bereiche möglicher Kooperation. Wenn wir in der Welt etwas gelten wollen, müssen wir eine autonome Militärmacht werden. Im Ukraine-Krieg brauchen wir die NATO, und dort dominieren die USA. Wir müssen das Kräftegleichgewicht innerhalb der Organisation wiederherstellen, indem wir unsere eigenen Verteidigungsfähigkeiten ausbauen.
Braucht Europa andere Strukturen, um ein geopolitischer Akteur zu werden?
Lamy: Die einzige institutionelle Frage im Moment ist, ob wir in Bereichen, in denen Einstimmigkeit vorgeschrieben ist, mit qualifizierter Mehrheit entscheiden sollen. In der Steuerpolitik bin ich der Ansicht, dass wir das tun sollten. Dabei geht es auch um eigene Einnahmen der EU, etwa eine europäische Körperschafts-oder CO2-Steuer. Was die Außenpolitik betrifft, gehöre ich nicht zu jenen, die qualifizierte Mehrheiten für die Lösung halten. Wenn man keinen Krieg führen will, dann glaube ich nicht, dass man Krieg führen muss, weil eine Mehrheit der EU-Mitglieder das beschlossen hat. Man kann eine Währung oder eine Bankenunion teilen; aber Albträume zu teilen, ist nichts, das man auf einer Konferenz entscheidet.
Pons: Der Krieg in der Ukraine ist jedoch ein Fall, bei dem wir uns fast alle einig sind.
Lamy: Aber die Europäer haben zunächst nicht dieselben Albträume geteilt. Balten
und Polen haben vor dem russischen Bären gewarnt. Und andere wie Deutschland und Frankreich haben gebremst. Wir können nicht darauf warten, dass Albträume wahr werden, bevor wir sie teilen.
Kann Europa unter diesen Umständen seinen globalen Einfluss sichern?
Lamy: Das glaube ich schon, auch wenn unser Wachstum aufgrund der demografischen Situation niedriger ist als anderswo. Wir haben Potenzial, etwa in der Wissenschaft, und wir haben einen enormen emotionalen Wert für den Rest der Welt. Auch wenn viele Europa wegen seiner Vergangenheit kritisieren, glaubt noch immer eine überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Welt, dass Europa ein guter Ort zum Leben ist. Es geht um den spezifischen Mix aus Demokratie und einer milderen Version des Kapitalismus. Die Glückskapazität ist nach wie vor ein sehr großer Vorteil von Europa.
Pons: Im Vergleich mit dem Rest der Welt ist Europa grün, sozial und demokratisch. Das macht unsere Identität aus. Aber wir werden an Stärke verlieren, wenn wir an Bevölkerung verlieren. Wir sollten offener sein für Migration. Migration ist durch den Klimawandel bereits eine Notwendigkeit. Man kann nicht in einem Land leben, in dem es kein Wasser mehr gibt. Zugleich gibt es mit der EU eine Region, die Macht verliert, wenn die Bevölkerung weiter schrumpft. Es ist also nicht allein eine Frage von Verpflichtung und Kapazität, sondern auch von eigenen Interessen.
Das Gespräch führte Floo Weißmann